Physiknobelpreis 1922: Niels Bohr

Physiknobelpreis 1922: Niels Bohr
Physiknobelpreis 1922: Niels Bohr
 
Der dänische Physiker erhielt den Nobelpreis für seine »Verdienste um die Erforschung der Struktur der Atome und der von ihnen ausgehenden Strahlung«.
 
 
Niels Bohr, * Kopenhagen 7. 10. 1885, ✝ Kopenhagen 18. 11. 1962; 1911 Promotion, 1911-16 Forschungsaufenthalte in England, 1916 Dänemarks erster Professor für theoretische Physik an der Universität Kopenhagen, ab 1921 eigenes Institut; 1943 Flucht vor der Gestapo nach Schweden, später in die USA, 1945 Rückkehr nach Kopenhagen.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Heutzutage ist es selbstverständlich, dass die Grundlagen der Atomphysik, also desjenigen Teils der Physik, der sich mit dem atomaren Aufbau der Materie beschäftigt, in der Quantentheorie liegen. Als diese aber im Jahr 1900 mit Max Plancks (Nobelpreis 1918) Entdeckung des Wirkungsquantums für Strahlungsphänomene ihren Ausgang nahm, war eine Quantenphysik des Atoms noch lange nicht in Sicht. Überhaupt etablierte sich die Existenzannahme von Atomen erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Es war daher 1913 eine revolutionäre Leistung des damals 28-jährigen Niels Bohr, durch eine geschickte Kombination klassischer und quantentheoretischer Annahmen eine erfolgreiche Behandlung des Wasserstoffatoms in Form eines Planetenmodells vorzulegen. Bohrs Arbeiten leiteten die für die Entwicklungsgeschichte der Quantenmechanik so wichtige semi-klassische Periode von 1913 bis 1925 ein, und Niels Bohrs Institut in Kopenhagen wurde, neben Göttingen, zum Mekka der Quantenphysik.
 
 Arbeiten zur Atomphysik
 
Nach seiner Doktorarbeit in Kopenhagen ging Bohr 1911 mithilfe eines Stipendiums nach England, zunächst an das Cavendish-Laboratory in Cambridge unter der Leitung von Joseph John Thomson (Nobelpreis 1906), dann nach Manchester zu Ernest Rutherford (Nobelpreis für Chemie 1908). Letzterem war es gerade gelungen, durch Streuexperimente von Alphateilchen an Materie zu zeigen, dass fast die gesamte Masse eines Atoms in einem positiv geladenen Kern enthalten und auf einen winzigen Raumbereich begrenzt ist. Dies führte dazu, Kernphänomene wie die Radioaktivität und Phänomene der Elektronenhülle wie das chemische Verhalten konzeptionell zu trennen.
 
Wie aber sollte man den Aufbau der Elektronenhülle verstehen? Bohr war der festen Überzeugung, dass mit rein klassischen Methoden die atomaren Energiezustände — messbar mithilfe der Spektroskopie — nicht zu beschreiben wären. Ein Hüllenelektron müsste, denkt man es sich auf einer kreisförmigen Bahn um den Kern, elektromagnetische Strahlung abgeben und aufgrund dieses Energieverlusts unweigerlich in den Kern stürzen. Bohr machte daher die kühne quantentheoretische Ad-hoc-Annahme, dass Elektronen ihre Energie nur unstetig abgeben können. Dabei fand die Planck'sche Konstante erstmals Eingang in die Formel für das atomare Energieschema. Mit seiner Formel konnte Bohr die bekannten Spektralserien des Wasserstoffatoms korrekt berechnen.
 
 Nobelpreise für Quantentheorie
 
In den Folgejahren konnte der Grundansatz Bohrs vor allem durch mathematische Erweiterungen des deutschen Physikers Arnold Sommerfeld in München weiter ausgebaut werden. Hierbei zeigte sich der besondere heuristische Wert des Bohr'schen Korrespondenzprinzips — also der geeigneten Ersetzung klassischer Größen durch korrespondierende Quantengrößen. Durch Bohrs Arbeiten wurde die Spektroskopie zum stärksten experimentellen Werkzeug bei der Untersuchung atomarer Phänomene.
 
Die Quantentheorie hatte nun eine unübersehbare Stellung in der Physik errungen — und es war dringend an der Zeit, diese Tatsache durch Nobelpreise zu würdigen. Mit der Preisvergabe für die Jahre 1918, 1921 und 1922 ehrte das Nobelkomitee — in der historisch korrekten Reihenfolge — die drei wichtigsten Begründer der Quantenphysik: Max Planck, Albert Einstein und Niels Bohr. Es ist ein vergnüglicher Beleg für die gegenseitige Wertschätzung dieser drei hochrangigen Wissenschaftler, dass in den jeweiligen Vergabejahren Einstein Planck, sodann Bohr Einstein und schließlich Planck Einstein und Bohr nominierte.
 
 Der Geist von Kopenhagen
 
Die Bohr-Sommerfeld'sche Atomphysik war erfolgreich bei Atomen mit einem äußeren Elektron, versagte aber bei Mehrelektronenatomen. Erst die Jahre 1925 bis 1927 brachten den Durchbruch zur endgültigen Quantenmechanik, vor allem durch die Arbeiten von Werner Heisenberg (Nobelpreis 1932) und Erwin Schrödinger (Nobelpreis 1933). Mit dem neuen Formalismus kam die Unbestimmtheit quantenmechanischer Größen ans Tageslicht. Bohr versuchte, diese neue Entwicklung vor allem konzeptionell und philosophisch zu durchdringen. 1927 formulierte er die Idee der »Komplementarität«: In der Quantenmechanik hat man es mit komplementären, das heißt einander einerseits widersprechenden, andererseits aber doch ergänzenden Beschreibungsweisen zu tun, wie bei der raum-zeitlichen Beschreibung des Teilchencharakters im Vergleich zur Wellenbeschreibung, die der Energieimpulserhaltung folgt. Beide gemeinsam sind nicht möglich. Nach Bohrs Auffassung zeigt sich hier die Individualität der Quantenphänomene, ihre Unteilbarkeit. Sie ist der eigentliche Grund für die Stabilität der Atome: Will man das Elektron im Atom als Einzelobjekt lokalisieren, zerstört man zwangsläufig das Atom als Ganzes. In der Komplementarität sah Bohr einen Grundzug jeglicher Naturbeschreibung, anwendbar auch in der Biologie oder Psychologie.
 
Vor allem mit dem jungen Heisenberg entwickelte Bohr eine Interpretation der Quantenmechanik, die als »Kopenhagener Deutung« Eingang in die Lehrbuchliteratur gefunden hat. Das Entscheidende an dieser Deutung ist die Unvermeidbarkeit klassisch-physikalischer Begriffe beim Messvorgang. Bohr erklärte: «Wir müssen sagen können, was wir gemessen haben.« Die Beobachterabhängigkeit der Messung wird von den Anhängern realistischer Deutungen, allen voran Einstein, bis heute verworfen. Die Bohr-Einstein-Debatte, die auf der Solvay-Konferenz 1927 ihren Höhepunkt fand, gibt ein eindrucksvolles Beispiel des Ringens zweier großer Denker um die philosophischen Grundlagen der Physik.
 
Bohrs bedeutende physikalische Leistungen liegen vor dem Jahr 1925, gleichwohl gelangen ihm in den 1930er-Jahren wichtige Arbeiten in der neu entstehenden Kernphysik. Und obwohl er nicht direkt zum Durchbruch der Quantenmechanik in der Mitte der 1920er-Jahre beigetragen hat, war doch sein Einfluss auf ihre Entwicklung unschätzbar wertvoll. Er war der große Lehrmeister, Mentor und wissenschaftliche Freund der jüngeren Garde — vor allem Heisenbergs und Wolfgang Paulis (Nobelpreis 1945). Als berühmter Sohn Dänemarks erhielt er zahlreiche Ehrungen und hatte eine Reihe wichtiger wissenschaftsorganisatorischer Ämter inne, mit einem über die Forschung hinausgehenden politischen Engagement. Nach dem Krieg setzte er sich vehement für atomare Abrüstung ein. Niels Bohr zählt zu den angesehensten Physikern des 20. Jahrhunderts.
 
H. Lyre

Universal-Lexikon. 2012.

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